Überblick zur Untersuchung
Im Frühjahr 2020 war ein Projekt zu den personenbezogenen Aschaffenburger Straßennamen angelaufen. Im Fokus standen dabei vor allem Personen (d.h. Namensträger von Straßen), die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts öffentlich gewirkt haben. Untersucht werden sollte, ob seitens der Stadt Straßenumbenennungen vorgenommen werden sollen. Im Kultur- und Schulsenat war das Vorhaben bereits am 26. November 2020 vorgestellt worden, im Plenum des Stadtrats dann am 14. Juni 2021. Ein weiterer Bericht erfolgte schließlich im Kultursenat am 22. März 2023.
Das Vorhaben wurde im Auftrag der Stadt durch das „Büro für Erinnerungskultur“ (Babenhausen) durchgeführt und seitens des Stadt- und Stiftsarchivs betreut. Für Bewertung und Beurteilung der Forschungsergebnisse ist ein aus Wissenschaftler*innen bestehender Fachbeirat gebildet worden, der gegenüber Verwaltung und Stadtrat berichtet (Prof. Dr. Sabine Freitag, Prof. Dr. Frank Jacob, Dr. Vaios Kalogrias, Dr. Joachim Kemper, Dr. Ursula Silber). Der Fachbeirat hat seit seiner Bildung regelmäßig Sitzungen abgehalten und über die Zwischenergebnisse beraten. Beschlüsse zu Umbenennungen sollen durch den Stadtrat erfolgen, der Fachbeirat gibt hierzu Empfehlungen.
Die teils umfangreichen Archivrecherchen sowie die Ausarbeitung von personenbezogenen Biographien (Dossiers) wurden im Verlauf der letzten Wochen abgeschlossen. Aus der Vielzahl von Straßennamen mit Personenbezug wurde eine Liste von Personen erstellt, die seitens des „Büros für Erinnerungskultur“ intensiver untersucht worden sind (Erstellung längerer Biographien, Dokumentation, Quellenrecherchen in Archiven, Anfragen bei weiteren Kolleg*innen usw.) [Anhang 1]. Auf Basis dieser Liste werden nun dem Stadtrat in Einzelfällen Empfehlungen für Umbenennungen vorgelegt.
Es ist vorgesehen, dass das Projekt unter anderem im Rahmen einer Ausstellung während der Kulturtage 2023 im Schönborner Hof präsentiert wird. Hier geht es auch um die generelle Funktion von Straßenbenennungen als Ehrungen und die damit verbundenen erinnerungskulturellen Besonderheiten. Im Verlauf der nächsten Monate sollen alle personenbezogenen Straßennamen außerdem über Kurzbiographien im digitalen Stadtlabor „Aschaffenburg 2.0“ erfasst und über die dortige Kartenfunktion „ansteuerbar“ gemacht werden (verknüpft über QR-Codes an den jeweiligen Straßen selbst). Auf diese Weise soll die Aschaffenburger Öffentlichkeit weiter informiert werden.
Zum Vorgehen und den Empfehlungen zur Umbenennung
Seit März 2021 haben sich die Mitglieder des Fachbeirats, zusammen mit dem „Büro für Erinnerungskultur” (Babenhausen), welches die Dossiers der zu prüfenden Namensgeber der Aschaffenburger Straßennamen erstellt hat, ausgetauscht und sich regelmäßig zu Besprechungen getroffen. Nachdem zunächst das Vorgehen diskutiert und Ende Oktober 2021 ein ähnliches Projekt anhand einer Ausstellung in Darmstadt zum Vergleich betrachtet wurde, begann der Fachbeirat im Frühjahr 2022 mit der Sichtung der zur genauen Prüfung vorgelegten Dossiers zu denjenigen Straßennamen, bei denen anhand ausgewiesener Kriterien eine genauere Sichtung und anschließende Diskussion über eine mögliche Empfehlung zur Umbenennung erfolgte.
Zur Überprüfung der besagten Fälle wurden bestimmte Kriterien (Allgemeine Kriterien, die von Beginn an den Blick auf die Straßennamen lenkten, waren: Extremismus aller Richtungen inklusive Rassismus; aktive und erhebliche Unterstützung des Nationalsozialismus und des Dritten Reiches; aggressiver Antisemitismus; erheblicher Militarismus (z.B. bezüglich des Ersten Weltkriegs); extreme Frauenfeindlichkeit) festgesetzt: Untersucht wurden konkret vor allem die Aneignung und Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda und antisemitischen Gedankenguts, die politische, ideologische, wirtschaftliche sowie künstlerische/kompositorische Tätigkeit zugunsten des Nationalsozialismus, die organisatorische Verstrickung in die NSDAP und den NS-Staat (etwa durch Übernahme von Posten/Funktionen), der berufliche Werdegang während der NS-Zeit, das Datum des Parteieintritts in die NSDAP (früherer und späterer Eintritt) und antidemokratische sowie nationalistische oder sonstige extremistische Haltungen in der Weimarer Zeit und nach 1945. Auch die Bejahung bzw. Ablehnung nationalsozialistischer Maßnahmen wurde berücksichtigt.
Nachdem Dr. Holger Köhn und Christian Hahn vom „Büro für Erinnerungskultur” aus Babenhausen eine erste Sichtung aller 284 Aschaffenburger Straßennamen vorgenommen hatten, wurden schließlich insgesamt 31 Straßennamen, für die eine genauere Prüfung notwendig erschien, von den Mitgliedern des Fachbeirats eingehender betrachtet und auf Grundlage der Kriterien diskutiert [Anlage 1]. Auf Basis umfangreicher und detaillierter Dossiers, die Köhn und Hahn angefertigt haben, wurden die besagten Fälle noch einmal umfassend analysiert und gründlich evaluiert.
Die Mitglieder des Fachbeirats haben zunächst eruiert und detailliert besprochen, nach welchen Gesichtspunkten eine Umbenennung als notwendig zu erachten ist und entsprechend einer Mehrheit innerhalb des Fachbeirats ein Vorschlag zur Umbenennung abgegeben werden sollte. Dabei wurde festgehalten, dass besonders für Namensgeber, deren Lebensgeschichte in Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus steht, eine Mitgliedschaft in NS-Organisationen allein nicht per se als Entscheidungskriterium ausreichen könne, sondern in den entsprechenden Einzelfällen sehr genau geprüft werden muss, wie die Haltung der jeweiligen Individuen zum NS-Regime und zur NS-Ideologie (auch gegenüber den staatlichen repressiven und Verfolgungsmaßnahmen) ausgesehen hat. Dahingehend wurden auch überlieferte Spruchkammerverfahren noch einmal kritisch hinterfragt und mit zeitgenössischen Personalunterlagen etwa aus dem Bundesarchiv verglichen. In weiteren schwierigen Fällen wurde eingehend und unter Berücksichtigung des jeweils relevanten historischen Kontexts geprüft, ob eine Umbenennung zu rechtfertigen wäre. In Fällen, bei denen keine Empfehlung zur Umbenennung ausgesprochen wird, weist der Fachbeirat aber darauf hin, dass zusätzliche Informationsmöglichkeiten in Verbindung mit den Straßennamenschildern erstrebenswert sind. Dies gilt aber letztlich für alle nach Personen benannten Straßennamen; diese sollen, wie bereits oben beschrieben, über das digitale Stadtlabor mit Kurzbiografien und weiteren Informationen versehen werden (und via QR-Code an den Schildern/Straßen selbst).
Explizit sei hier auch darauf hingewiesen, dass bei künftigen Um- oder Neubenennungen vermehrt Frauen als Namenspatronin Beachtung finden sollten, da diese bei der bisherigen Benennung von Straßennamen deutlich unterrepräsentiert sind.
Nach eingehender Prüfung empfiehlt der Fachbeirat schließlich die Umbenennung der folgenden Straßennamen:
Den folgenden Erläuterungen liegen die ausführlichen Dossiers [Anlage 2] zugrunde, die dem Stadtrat ebenfalls vorgelegt werden.
1. Becker, Julius Maria
Becker hatte sich von der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten einen Aufschwung für sein eigenes literarisches Schaffen erhofft und versucht, sich opportunistisch in Stellung zu bringen. Seine Mitgliedschaft im „Kampfbund für deutsche Kultur“, einer Organisation, deren Gründung in seiner Wohnung stattfand und die maßgeblich von ihm mitgetragen wurde, ist als solcher Versuch zu verstehen. Selbst wenn sich Becker im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens nach 1945 als „Opfer“ des NS-Regimes darzustellen versuchte, kann davon ausgegangen werden, dass die Distanz zum Regime in späteren Jahren nicht die Folge seiner Aktivitäten war, sondern schlichtweg der Tatsache geschuldet gewesen ist, dass Becker nicht als bedeutender Literat wahrgenommen worden war. Schon zu Beginn der 1930er Jahre war das Interesse an den Arbeiten Beckers geschwunden, so dass die Hinwendung zum Nationalsozialismus in erster Linie aus opportunistischen Hoffnungen entstanden sein dürfte. Dem Autor und Bühnenschöpfer war nicht aufgrund der „Machtergreifung“ der Erfolg verwehrt, sondern aufgrund kaum vorhandenen Interesses an seinen Arbeiten. Er musste nicht mit Verfolgung rechnen und erlebte folglich auch, was festzuhalten bleibt, kein „Inneres Exil“. Gerade aufgrund seines aktiven Versuchs, Anschluss an das NS-Regime und dadurch einen exponierten Status zu erhalten, wird eine Umbenennung empfohlen.
2. Dinges, Josef
Der Kleiderfabrikant Josef Dinges war zwischen 1940 und 1944 „Textilsachbearbeiter“ im Ghetto Lodz/Litzmannstadt. Diese Tätigkeit hatte er im Zuge des Entnazifizierungsprozesses (Meldebogen vom 9. Mai 1946) allerdings nicht erwähnt. Aufgrund des Kontextes dieses Wirkens, das im Zusammenhang mit Zwangsarbeit und der Vernichtung der europäischen Juden durch das NS-Regime steht, kann in diesem Fall kein anderer Schluss erfolgen, als eine Umbenennung zu empfehlen. Es wird hier zudem darauf hingewiesen, dass eine ausführliche Prüfung bei der Erstbenennung der Straße nicht stattgefunden zu haben scheint.
3. Heim, Georg
Georg Heim (Lehrer, Politiker sowie Präsident der Bayerischen Landesbauernkammer) war zwar kein direkter Unterstützer des Nationalsozialismus, aber ein genauer Blick auf sein Leben lässt deutlich antisemitische Züge erkennen, die aufgrund der von ihm bekleideten Ämter durchaus eine politische bzw. juristische Wirkung entfalteten. Heim war bereits in der Weimarer Republik ein Gegner derselben, der sich kaum bemühte, seine „Demokratiefeindlichkeit“ zu camouflieren. Zwar hatte er sich 1933 aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, seine vorherigen Äußerungen werden jedoch als schwerwiegend genug bewertet, um eine Umbenennung zu empfehlen.
4. Pfeifer, Valentin
Der Lehrer und Heimatschriftsteller Valentin Pfeifer hatte zunächst überwiegend „Heimatliteratur“ und Märchen mit einem Fokus auf den Spessart veröffentlicht. Zunehmend hatte er sich seit 1933 jedoch dem Nationalsozialismus zugewandt und war in mehreren NS-Organisationen aktiv:
1933 – 1945 Mitglied des NS-Lehrerbunds
1933/35 – 1945 Mitglied der NSDAP [Mitglieds-Nr. 3 560 723, Mitgliedsbuch Juli 1936]
1934 – 1945 Mitglied der NS-Volkswohlfahrt und des Reichsluftschutzbunds
1934 – 1938/45 Mitglied der Reichsschrifttumskammer
1935 – 1945 Mitglied im Volksbund für das Deutschtum im Ausland
1936/37 – 1945 Mitglied im Reichskolonialbund
Seine literarischen Werke haben sich darüber hinaus stärker dahingehend verändert, dass diese auch Elemente der NS-Ideologie aufgenommen und damit weiterverbreitet haben. Seine im Jahr 1936 erfolgte Veröffentlichung „Das Jahr des Bauernbuben“ ist beispielsweise in diesem Sinn zu deuten. In seiner Funktion als Rektor an der Volksschule in Aschaffenburg-Damm (1942) hatte er gleichfalls Einfluss auf Schüler*innen und deren Lerninhalte an besagter Einrichtung. Aufgrund der Nähe und aktiven Förderung nationalsozialistischer Ideen, selbst wenn diese in erster Linie literarischer und kultureller Art waren, wird eine Umbenennung in diesem Fall empfohlen.
5. Roth, Ludwig
Der Former Ludwig Roth war ein aktiver Nationalsozialist und zu sehr in die verschiedenen Organisationen des NS-Regimes verstrickt, um ein Antifaschist gewesen zu sein. Das Argument, Roth sei nur in die NSDAP eingetreten, um seiner wirtschaftlichen Notlage zu entkommen, überzeugt nicht. Hinzu kommt, dass er ab September 1940 als Oberfeldwebel im Frontstalag 181 (“Frontstammlager” = Gefangenenlager) im französischen Saumur stationiert war. Zwar lässt sich wegen der dürftigen Quellenlage nicht genau rekonstruieren, welche Rolle er im Lagerleben gespielt hat, als Offizier dürfte er jedoch einen gewissen Anteil an den Abläufen gehabt haben. Die Frontstalags waren explizit für französische „Kolonialtruppen“ aus Afrika oder „Indochina“ eingerichtet worden, um diese zu segregieren. Die Kriegsgefangenen, insbesondere in Saumur, wurden zudem wie in einem „menschlichen Zoo“ vorgeführt und deutsche Soldaten, die das Lager bisweilen besuchten, posierten auf Fotos mit den afrikanischen Männern. (Vgl. zu dieser Problematik auch ausführlich: Belkacem Recham, Les indigènes nord-africains prisonniers de guerre (1940-1941), in: Guerres mondiales et conflits contemporains 223 (2006) H. 3, S. 109-121; Armelle Mabon, La singulière captivité des prisonniers de guerre coloniaux durant la Seconde Guerre mondiale, in: French Colonial History 7 (2006), S. 181-197. Dieser explizit gelebte oder zumindest geduldete Rassismus bildet neben Roths Einbettung in die NS-Strukturen seit 1933 ausreichend Anlass, eine Umbenennung zu empfehlen.)
6. Scheppler, Paul
Der Jurist Paul Scheppler kann nur schwer als „Mitläufer“ betrachtet werden, auch wenn in seinem Entnazifizierungsverfahren so entschieden worden war. Bis 1945 war er Richter und bekleidete zeitgleich mehrere juristische NS-Ämter. Darüber hinaus hatte er einen maßgeblichen Anteil an der Gleichschaltung des bayerischen Richtervereins gemäß den nationalsozialistischen Anordnungen und Vorstellungen. Seine Veröffentlichungen weisen außerdem eine unterstützende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus auf. Juristisch und aufgrund bestehender Beziehungen war es ihm nach 1945 möglich, ein zunächst gegen ihn sprechendes eindeutiges Urteil in ein gegenteiliges zu verwandeln und eine Einstufung als „Mitläufer“ zu erreichen. Aufgrund seiner pro-nationalsozialistischen Einstellung und entsprechender Handlungen, auch in seiner Funktion als Richter, wird eine Umbenennung in diesem Fall empfohlen.
7. Stenger, Erich
Der Fotochemiker, Sammler und Experte für Fotogeschichte Erich Stenger suchte aktiv den Anschluss an das NS-Regime, da er auf seine exponierte Stellung als ausgewiesener Kenner im Bereich der Fotografie auch in den Jahren des Nationalsozialismus nicht verzichten wollte. Sein Opportunismus ging jedoch so weit, dass er aktiv versuchte, die Errungenschaften jüdischer Kollegen in seinem Expertisenbereich zu minimieren und auch im Zuge seiner Arbeit in Joseph Goebbels „Kommission zur Bewahrung von Zeitdokumenten, Sektion Bildpresse“ zu schmälern. Kurzum: Die eigene Karriere und Stellung wogen für Stenger schwerer als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Ihm kann daher ein aktiver Geschichtsrevisionismus antisemitischer Prägung nachgewiesen werden, weshalb der Fachbeirat in diesem Fall eine Umbenennung empfiehlt.