Der Antrag zur Errichtung einer Erinnerungs- und Informationstafel soll nach eigenen Angaben „an die Schicksale der Opfer in Aschaffenburg erinnern, aber auch versuchen, einen Bogen zu anderen verheerenden [Luft-]Angriffen (Nagasaki, Vietnam, Irak etc.) zu spannen“. Ziel des Antrags sei, auf das Leid der Zivilbevölkerung während kriegerischer Auseinandersetzungen aufmerksam zu machen.
Das Thema der zivilen Opfer von Luftangriffen findet in Deutschland große mediale Beachtung und beschäftigt auch die Geschichtswissenschaft, wie der bekannte deutsche Historiker Dietmar Süß in einem Beitrag aus dem Jahr 2005 schreibt.[1] Zahlreiche Bücher, Reportagen und Gedenkveranstaltungen erinnern an das tragische Schicksal der Opfer und die Grausamkeit von Bombenkriegen.
Doch die Erinnerung an das Leid der Zivilbevölkerung muss eine wichtige Voraussetzung erfüllen: Sie muss in den richtigen Kontext gestellt werden. Im Fall des Antrags bedeutet das: Das Leid von Zivilisten (auch in Aschaffenburg) infolge und während feindlicher Luftangriffe muss in den Kontext des nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieges in Europa eingebettet und darüber entsprechend informiert werden. Andernfalls entsteht ein verzerrtes Geschichtsbild; die Erinnerung aber darf weder selektiv sein noch zu Pauschalisierungen und historischen Fehlurteilen führen.
Bei der Erinnerung an die zivilen Opfer von Luftangriffen muss deshalb zu Beginn an die Zerstörung der spanischen Stadt Guernica im April 1937 durch deutsche und italienische Kampfflugzeuge während des Spanischen Bürgerkrieges erinnert werden. Zum ersten Mal fand hier ein Luftangriff statt, der die Zivilbevölkerung auslöschen sollte und die Epoche des industrialisierten Massenmordes einleitete. Diese „Operation“ war ein Kriegsverbrechen, was auch im persönlichen Kriegstagebuch des Chefs des Stabes und nachmaligen Kommandeurs der „Legion Condor“ Generalfeldmarschall Wolfram Freiherr von Richthofen deutlich zum Ausdruck kommt. So heißt es am 30. April 1937: „Guernica […] buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht“[2].
In der Folge müssen die deutschen Luftangriffe zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und auch danach – unter anderem in Polen, England und Jugoslawien – thematisiert werden. Diese brachten der Zivilbevölkerung großes Leid und hatten große Zerstörungen zur Folge. In Warschau verloren tausende Zivilisten ihr Leben[3], die englische Stadt Coventry wurde in der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940 nahezu vollständig zerstört[4] und auch Belgrad erlebte am 6. April 1941 ein schweres Bombardement aus der Luft[5], bei dem Schätzungen zufolge einige tausend Menschen ums Leben kamen.
Die chronologische Abfolge dieser Ereignisse ist sehr wichtig, um die Zusammenhänge richtig zu verstehen und die britischen und US-Luftangriffe auf deutsche Städte – vor allem ab 1943 (auch in Aschaffenburg) – mit dem daraus resultierenden Leid für die deutsche (und Aschaffenburger) Zivilbevölkerung einordnen zu können. Die im Antrag angesprochenen Vergleiche (Nagasaki, Vietnam, Irak) tragen deshalb nicht zu einer angemessenen Erinnerungskultur bei, da zu unterschiedliche Kontexte und Zeiten miteinander verwoben werden und in gewisser Hinsicht eine Solidarisierung mit anderen Opfergruppen sowie eine geografische „Verbreiterung“ der Thematik genutzt wird, um die dezidierte Kontextualisierung in der Zeit des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges gewissermaßen zu verschleiern. So können die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki nicht mit (anderen) Luftangriffen in Zusammenhang gebracht werden; das Ausmaß der Katastrophe übersteigt hier jede Vorstellung und ist (bislang) ein singuläres Ereignis der Menschheitsgeschichte. Die US-Luftangriffe auf Vietnam (u.a. mit Napalm) und die Operationen der „Koalition der Willigen“ im Irak wiederum fanden bekannterweise nicht im Kontext des Zweiten Weltkrieges statt.
„Den Bogen zu spannen“, wie es im Antrag heißt, erweist sich daher hier als kontraproduktiv. Durch eine willkürliche Auswahl von Schauplätzen und Zeiten, unter dem Stichwort „verheerend“ zusammengefasst, entstehen falsche Rückschlüsse und Eindrücke. So erscheinen Großbritannien und vor allem die USA implizit als diachronische “Tätervölker”; bezeichnenderweise werden im Antrag die Angriffe der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg ausgeklammert; gleiches gilt – wenn man den Bogen spannen möchte – für die aktuellen russischen Bombenangriffe gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. Dass ausgerechnet die zivilen Opfer – Frauen, Männer und Kinder – der militärischen Aggression des autoritären Putin-Regimes, die vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfindet, unerwähnt bleiben, zeigt, dass eine Erinnerungskultur nur dann gelingen kann, wenn sie nicht parteipolitischen Interessen untergeordnet ist und in Einklang mit den Forschungsergebnissen der seriösen Geschichtswissenschaft steht.
[3] An einem einzigen Tag – 16. September 1939 – warfen 820 deutsche Flugzeuge insgesamt 328.000 Kilogramm Bomben auf die polnische Bevölkerung ab. Vgl. Richard J. Evans, Das Dritte Reich. Krieg, Bd. 3, München 2010, S. 19. Warschau wurde durch Artilleriebeschuss und Luftbombardement weitgehend zerstört. Vgl. Peter Longerich, Hitler. Biografie, München 2015, S. 685.
[4] Während der “Luftschlacht um England” kamen bis Juni 1941 43.000 Zivilisten ums Leben, darunter auch 600 Einwohner von Coventry. Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914-1945, München 2011, S. 929.
[5] Vgl. Winkler, Geschichte des Westens, S. 936. Evans, Das Dritte Reich, S. 199.