„Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter“, so lautet der mehrdimensionale Titel des aktuellen Kinder- und Jugendberichts.
Zu diesem Thema hat die Bundesregierung im Oktober 2014 beschlossen, den 15. Kinder- und Jugendbericht ausarbeiten zu lassen. Dementsprechend hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Manuela Schwesig, am 28. Oktober 2014 eine Kommission von zwölf Sachverständigen beauftragt, bis zum Sommer 2016 hierzu einen Bericht vorzulegen.
Dem Auftrag zufolge soll der Bericht „die Bedeutung der Lebensphase Jugend in den Fokus stellen“. Damit ist der vorliegende 15. Kinder- und Jugendbericht ein sogenannter „thematischer“ Bericht, nachdem der 14. Kinder- und Jugendbericht – wie jeder dritte Bericht – ein Gesamtbericht war. Der Bericht soll sich also auf das Jugendalter konzentrieren und die Phase der Kindheit ausdrücklich ausklammern. Schon diese Akzentsetzung ist ungewöhnlich. Nachdem die Kinder- und Jugendberichte gemäß § 84 SGB VIII bis Mitte der 90er Jahre nur die Jugend im Titel und auch implizit im Fokus hatten, wurde die Berichterstattung ab dem zehnten Bericht vor knapp 20 Jahren gezielt auf das Kindesalter ausgeweitet. Der ausdrückliche Fokus auf das Jugendalter, wie sie für diesen Bericht von der Bundesregierung beschlossen wurde, fällt deshalb sofort als Besonderheit auf: Erstmalig steht die Jugend explizit im Mittelpunkt der Berichterstattung.
Dieser Umstand ist ein Indiz dafür, dass die Selbstverständlichkeit verloren gegangen ist, mit der im letzten Jahrhundert noch über die Jugend oder das Jugendalter gesprochen worden ist; zumindest bedarf es einer neuen Vergewisserung. Nicht ganz überraschend ist es daher, dass Jugend auch im politischen Raum zuletzt vermehrt als eine Leerstelle zu verbuchen war; eine spezifische Politik des Jugendalters war lange Zeit nicht auszumachen.
Zu unklar geworden sind die Konturen des Jugendalters, zu unscharf die Besonderheiten einer gemeinsamen Generationenlage, zu undeutlich die damit verbundenen politischen Herausforderungen. Stattdessen wurde aus dem Jugendalter eine Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, wurde aus der Jugend ein individualisiertes Gestaltungs- und Bewältigungsprojekt jedes und jeder einzelnen Jugendlichen.
Zugleich ist die Aufmerksamkeit für die Belange des Jugendalters auch aus der Öffentlichkeit verschwunden. Jugend stößt auf kein allgemeines Interesse mehr, Jugend ist kein eigenes, attraktives Thema mehr. Regelmäßig erscheinende Jugendstudien lösen noch am ehesten in den einschlägigen Unternehmensbranchen Neugier aus, die sich auf die Jugend als Konsumenten beziehen und keinen neuen Jugendtrend verpassen wollen.
Im Anschluss an eine Hochphase von Jugend, Jugendpolitik und Jugendforschung, welche bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts anhielt und durch geburtenstarke Altersjahrgänge ebenso geprägt war wie durch exponierte neue Jugendkulturen und soziale Bewegungen, hat die Jugend an gesellschaftlicher Anziehungskraft und politischer Bedeutung verloren. Mehr noch: Im Zuge der neu entstandenen Aufmerksamkeit gegenüber der Kindheit und insbesondere der frühen Kindheit – sowie einem demografisch bedingten Anstieg des Interesses an den über 60-Jährigen – rückte sie eher an den Rand des öffentlichen Interesses. Es bedurfte und bedarf daher eigener, zusätzlicher Anstrengungen und gezielter politischer Aktivitäten – wie beispielsweise in jüngerer Zeit den Bemühungen um eine „eigenständige Jugendpolitik“ oder den Debatten zu einem „Jugendcheck“ –, um sich des Themas Jugend im öffentlichen und politischen Raum wieder neu zu bemächtigen.
Im ersten Teil des Berichts werden die konzeptionellen Grundlagen für ein zeitgemäßes Verständnis von Jugend gelegt sowie die Lebenslagen, Ausdrucksformen und generationalen Lagerungen Jugendlicher skizziert. Die Leitfrage ist dabei: Wie wird Jugend ermöglicht? Die Beantwortung dieser Frage beginnt mit der Spurensuche danach, welche Bilder von Jugend heute vorherrschen, wenn in unterschiedlichen gesellschaftlichen Segmenten von Jugend die Rede ist. Gefragt wird aber auch, ob sich Jugend aufgrund innerer Gemeinsamkeiten überhaupt noch sinnvoll als eine gemeinsame Generationenlage konturieren und gegenüber anderen Lebensphasen überzeugend abgrenzen lässt. Der Übergang in die Volljährigkeit jedenfalls erweist sich diesbezüglich als wenig tragfähig.
Diese Befundlage hat dazu beigetragen, dass die Kommission in Anbetracht der vielen fließenden Übergänge zwischen Jugendlichen und jungen Volljährigen sowie der vielfach ungleichzeitig verlaufenden biografischen Prozesse des Erwachsenwerdens im Laufe ihrer Arbeit den Blick immer stärker und dezidierter auf die jungen Erwachsenen ausgeweitet und diese in ihre Betrachtungen mit einbezogen hat. Viele Lebensereignisse, die lange dem Jugendalter oder seinem Ende zugesprochen wurden – Schule, berufliche Ausbildung, Auszug aus dem Elternhaus etc. –, haben sich bei einer wachsenden Zahl von jungen Menschen bis in das dritte Lebensjahrzehnt und damit das junge Erwachsenenalter hinein verlängert und verschoben. Die Sachverständigenkommission rückte daher neben den Jugendlichen auch die jungen Erwachsenen in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit.
Das zweite Kapitel widmet sich den Lebenslagen Jugendlicher und junger Erwachsener anhand verfügbarer amtlicher und repräsentativer nichtamtlicher Daten. Dabei wird der Blick zunächst auf die generationale Lage gerichtet mit den Schwerpunkten der demografisch veränderten Stellung der Alterskohorten des Jugendalters im Generationenvergleich, der wachsenden Bedeutung des gesellschaftlichen Umgangs mit Zuwanderung und Migration im Jugend- und jungen Erwachsenenalter – einschließlich der aktuell geflüchteten jungen Menschen – sowie den sozio-ökonomischen Bedingungen des Jugendalters zwischen Armutsrisiken, (Neben-)Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit.
Ausführlich bilanziert wird die Befundlage zu den einzelnen Etappen der bildungsbezogenen Qualifizierung junger Menschen, angefangen von den schulischen Erfolgen und Misserfolgen über das berufliche Ausbildungswesen bis hin zu den Veränderungen im Zugang zum Studium. Dabei wird auch nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit Blick auf die jahrgangsbezogenen Anteile und die Dauer der einzelnen Qualifikationsphasen gefragt. Abgerundet wird dieser Abschnitt mit einer exemplarischen Präsentation non-formaler Qualifizierungsangebote im Jugend- und jungen Erwachsenenalter.
Abschließend in den Blick genommen wird in diesem zweiten Kapitel ausführlich der Prozess der Verselbstständigung. Dabei wird neben einer generellen Inblicknahme dieser Thematik vor allem die Gründung eines eigenen Haushalts, die ökonomische Verselbstständigung sowie die Familiengründung betrachtet. Insgesamt eröffnet das Kapitel die Möglichkeit einer empirisch gerahmten Grundlegung der Kernherausforderungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter.
Das dritte Kapitel greift erstmalig und ausführlich das Anliegen auf, das Alltagsleben, die Ausdrucksformen und die Handlungsräume Jugendlicher anhand einschlägiger Jugendstudien und thematischer Einzelstudien in den Mittelpunkt zu rücken. In diesem Sinne ist es auch als die andere Seite der Lebenslagen des vorigen Kapitels zu verstehen, weil es weniger die strukturellen Aspekte des Jugendalters, als vielmehr die Ausdrucksformen der Jugendlichen in dieser Lebensphase thematisiert. Der im Raum stehende Akzent liegt dabei auf den Fragen, was Jugendliche in ihrem Alltag tun, welchen Stellenwert Familien- und Gleichaltrigenbeziehungen einnehmen, wie sie diese Netzwerke gestalten, was über Gleichaltrigenbeziehungen und Paarbeziehungen aus Sicht der Jugendlichen bekannt ist, aber auch, wie sich Jugendliche in Jugendkulturen und Jugendszenen ausdrücken und wie sie mit Politik und Religion umgehen. Hierzu wird ausführlich das verfügbare Daten- und Studienmaterial zusammengetragen, sodass insgesamt eine Vorstellung davon erkennbar wird, was Jugendliche in und mit diesen Themenfeldern tun. Abgerundet wird das dritte Kapitel mit einem Blick auf das Handeln von Jugendlichen in öffentlichen Räumen und den damit zusammenhängenden regionalen Disparitäten. Dies schließt auch Analysen zu den sozial segregierten sowie peripherisierten ländlichen Räumen mit ein. Schließlich wird in Anbetracht der verstärkten internationalen Mobilität das Augenmerk auch auf die globalen und transnationalen Räume gerichtet, um so den damit verbundenen wachsenden Realitäten – zwischen Zuwanderung und Auslandsaufenthalten – Ausdruck zu verleihen. In der Summe kommen damit, auch in Übereinstimmung mit dem Anliegen des Berichtsauftrags, die Ausdrucksformen und Sichtweisen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen verstärkt ins Blickfeld.
Das vierte Kapitel widmet sich ausführlich dem digital vernetzten Leben Jugendlicher. Noch tut sich die Jugendforschung schwer, die Digitalisierung des Alltags junger Menschen zu einem integralen und selbstverständlichen Bestandteil ihrer Forschung zu machen. Umso dringlicher erschien es der Kommission, das Thema der „virtuellen Welten“, wie es im Berichtsauftrag heißt, zu einem eigenen, umfangreichen Teil des Berichts auszubauen, auch wenn sich die Digitalisierung längst zu einem universellen Bestandteil aller Lebensbereiche entwickelt hat. Digitale Medien nehmen Einfluss auf die Art und Weise, wie Jugendliche ihren Alltag und die Zeiten mit der Familie gestalten, wie sie Peer- und Partnerschaftsbeziehungen pflegen, wie sie ihren Schul-, Ausbildungs- und Studienalltag organisieren, wie sie sich orientieren und Zugehörigkeiten herstellen und wie sie sich politisch, kulturell und religiös positionieren
Kapitel 5 bilanziert die aktuelle Situation der Ganztagsschule in der Sekundarstufe. Nach fast fünfzehn Jahren des deutschlandweit intensivierten Auf- und Ausbaus einer sich nach und nach zum Regelangebot entwickelnden Ganztagsschule ist eine Standortbestimmung überfällig. Dabei liegt im Bericht der Akzent zum einen dezidiert auf der Ganztagsschule im Jugendalter, da ab der Sekundarstufe und den damit einhergehenden Altersstufen das Betreuungsmotiv einer Nutzung der Ganztagsschule immer weniger zugrunde liegt. Zum anderen werden vor allem Fragen der Kooperation mit außerschulischen Partnern wie der Kinder- und Jugendhilfe besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Während im ersten Teil die Frage im Mittelpunkt steht, welche Rolle der Schule bei der Regulierung von Jugend zukommt, wird im zweiten Teil dieses Kapitels eine breite empirische Bilanz zur Ganztagsschule im Sekundarschulalter gezogen. Infolgedessen stellt sich im Anschluss daran die Frage nach dem Verhältnis der Schule bzw. der Ganztagsschule zu den Besonderheiten des Jugendalters. Gefragt wird, wie Jugendliche die neuen Optionen und Restriktionen der Ganztagsschule wahrnehmen, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang die Inhalte und die Qualität der Angebote haben, wie sich die Pflichtschule mit der Idee eines freiwillig genutzten Ganztagsangebots verträgt und welche Chancen eine stärkere Beteiligungsorientierung in dieser erweiterten Schulform entfalten könnte.
Die Kinder- und Jugendarbeit, Gegenstand des sechsten Kapitels, gehört zum Grundbestand einer modernen Kinder- und Jugendhilfe. Infolgedessen hat sich die Kommission entschlossen, sich damit in einem eigenen Kapitel zu befassen, zumal sich die Kinder- und Jugendarbeit gegenwärtig zwischen den Kindertageseinrichtungen und den Hilfen zur Erziehung nicht gerade in einer komfortablen Lage befindet. In Anbetracht dessen stehen im Bericht mehrere Themen im Blickpunkt: Zunächst wird auf Basis empirischer Daten gefragt, wie sich das institutionelle Gefüge der Kinder- und Jugendarbeit aktuell darstellt, wer die Angebote nutzt und was Jugendlichen dort wichtig ist bzw. was sie aus der Kinder- und Jugendarbeit machen.
Im Horizont dieser empirischen Vermessung wird anschließend eine Zwischenbilanz zu aktuellen Spannungsfeldern gezogen: die Spannung zwischen der Erreichbarkeit aller gegenüber den tatsächlich erreichten Jugendlichen, die Spannung zwischen den Eigeninteressen der Jugendlichen und den gesellschaftlichen Erwartungen und Ansprüchen an eine zeitgemäße Kinder- und Jugendarbeit, die Spannung zwischen von Erwachsenen vorstrukturierten Angeboten und der Selbstorganisation Jugendlicher sowie die Spannung zwischen einer ehrenamtlich und einer beruflich ausgerichteten Kinder- und Jugendarbeit.
Das letzte themenspezifische Kapitel 7 dreht sich um jene sozialen Dienste, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen – vorzugsweise in prekären Lebenslagen – Angebote und Unterstützung unterbreiten. Dabei werden vier thematische Horizonte entfaltet: Erstens wird der Blick auf die Schwellen und Schnittstellen zwischen Schule und Beruf gerichtet; Fragen der Schulsozialarbeit und der Jugendsozialarbeit werden in diesem Zusammenhang ebenso aufgeworfen wie, vor allem, die Unzulänglichkeiten des Berufsbildungswesens mit seinem Übergangssystem. Zweitens werden die Hilfen zur Erziehung und dabei vor allem die Situation der jungen Volljährigen thematisiert. Der Bericht lenkt in diesem Zusammenhang den Blick zum einen auf die Ambivalenz, dass die Beendigung der Hilfen relativ pauschal mit dem Übergang in die Volljährigkeit vollzogen wird, obwohl alle Daten darauf hinweisen, dass zu diesem Zeitpunkt von einem Übertritt in ein selbstständiges Erwachsenenleben nicht die Rede sein kann. Zum anderen wird auch hier die Herausforderung erörtert, wie sich in diesem Feld der Kinder- und Jugendhilfe „Jugend ermöglichen“ lässt.
Der 15. Kinder- und Jugendbericht endet mit einem achten und letzten Kapitel, das an sämtliche vorigen Kapitel anschließt und anknüpft. Unter dem Leitmotiv „Jugend ermöglichen“ werden die Herausforderungen und Empfehlungen des Berichts zu den einzelnen Themenfeldern in den Mittelpunkt gerückt. Im Unterschied zu früheren Berichten hat die Kommission dabei auf einen eigenen Abschnitt zu Empfehlungen verzichtet und stattdessen die aus ihrer Sicht wesentlichen Herausforderungen thesenförmig zugespitzt in dieses Kapitel eingebaut.